Mein Timing ist perfekt. Ich habe noch exakt 15 Minuten bis ich los muss und zupfe noch eben schnell meine längst überfälligen Augenbrauen. Gerade als ich fertig bin und nach meinem Koffer greife leuchtet Lauras Name auf dem Telefon-Display auf.
Angesichts ihrer offenbar fortgeschrittenen Telefonitis fluche ich: „Ja, hat man denn nie seine Ruhe?!“, und gehe ran.
Bevor ich dazu komme meine Eile zu erklären, setzt Lauras abrupt einsetzenden verbalen Erguss an: „...also via Chat ist der ja sooo süß! So intelligent, so charmant und witzig. So tiefsinnig, wenn man es versteht zwischen den Zeilen zu lesen. - Das kann er nicht `spielen´. Er hat einfach Stil...“
Ich nehme mal an, die mir zukommenden Informationen drehen sich um diesen Claus und flehe flehe seufzend gen Himmel, Laura möge bald wieder zur Besinnung kommen und „DElite“ den Rücken kehren.
„...und am Telefon erst. - Seine Stimme!“
Da bislang jedoch keines meiner Stoßgebete erhört wurde, besteht in dieser Sache wohl nur wenig Grund zu Hoffnung.
Laura schmachtet: „Ich kann dir sagen, sogar am Telefon hört man viele Zwischentöne raus, wenn man das nötige Feingefühl hat.“
Zähne knirschend überlege ich, ob es vielleicht ratsam wäre, mir eine Beißschiene zuzulegen und starte den Versuch meine Freundin ein wenig auszubremsen: „Also, erst mal `Servus Laura´ - und dann ein erstauntes: Sooo, `zwischen den Zeilen lesen´ kannst du und noch ein: Aaah, auch `zwischen den Tönen hören´?!“
„Ja, klaro“, trällert die naiv-glückselige, „das kann einem schon so einiges über die Persönlichkeit verraten, dazu muss man allerdings gut kombinieren können – eben richtig interpretieren.“
„Vor allem HINEIN!“
„Wie meinst du das jetzt?“
„Na, hinein-interpretieren eben, nenn es von mir aus auch: Spekulieren!“
Stille in der Leitung und dann ein enttäuschtes: „Ach Mensch Julia, ich dachte du bist meine Freundin, dabei nimmst du mir jegliche Vorfreude, wo er doch so sympathisch ist und schließlich stehen wir jetzt schon gut zwei Wochen in regem Kontakt und...“
„Aber in Wahrheit kannst du den Typen doch noch gar nicht reell einschätzen“, unterbreche ich sie, doch erwartungsgemäß hört mir Laura gar nicht erst zu, sondern wäschert munter weiter: „...und er arbeitet beim bayrischen Rundfunk...“
„Ähm, also Laura“, nervös spähe ich auf die Uhr im Flur, „ich muss echt los. Der Bus fährt in exakt fünf Minuten - weißt doch: Familienwochenende - und der Zug...“
„...und ein Tattoo will er sich stechen lassen...“
„...wartet schließlich nicht.“
„...und studieren... und ...“
„Ist ja alles schön und gut, aber wann steht ihr euch endlich live and direct, bunt und in Farbe gegenüber?“ Langsam bin ich genervt. „Sprich: Wann trefft ihr euch?!“
„Morgen, weil er heute Spätschicht hat. Und dich rufe ich gleich Sonntagabend an.“
Habe ich eine Wahl?
„Dann erhältst du natürlich die ausführliche Berichterstattung.“
Von nichts anderem gehe ich aus, verabschiede mich knapp, nehme meine Beine in die Hand und erwische auf den aller-letzten Drücker gerade noch den Bus Richtung Hauptbahnhof.